Die Überraschung ist die Würze des Lebens, ohne sie wäre es fad und langweilig. Es ist das Unerwartete, was uns zum Staunen bringt, uns beeindruckt und in unserer Erinnerung verbleibt. Ein ganz in diesem Sinne beeindruckend verblüffendes und daher besonders köstliches Erlebnis kredenzen – wie ich finde – die Macher der Ausstellung „Baumeister der Revolution“, die derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wird. Die Exposition stellt eine sowjetische Architektur vor, wie sie hierzulande – aber auch in Russland selbst – weitgehend unbekannt sein dürfte. Für mich selbst jedenfalls war Sowjet-Architektur bisher ein gelinde gesagt unvorteilhafter Mix aus dem von Stalin geprägten monumentalem Zuckerbäckerstil und der gesichtslosen Monotonie steriler Plattenbauten. Umso spannender war es nun eine völlig andere, extravagante Seite der sozialistischen Realität zu erkunden.
In einer kurzen Zeitspanne nämlich, etwa von 1922 – 1935, schufen sowjetische Architekten wie Konstantin Melnikow oder Moisej Ginsburg herrlich avantgardistische Bauwerke, die in ihrer klaren, visionären Ästhetik den zeitgenössischen westlichen Strömungen wie der klassischen Moderne in Nichts nachstehen, sie vielleicht sogar übertreffen. Denn ihre kühnen und optimistischen Formen und Linien spiegeln auch die unbändige Kraft und grenzenlose Kreativität einer jungen Gesellschaft wider, die sich nach den revolutionären Umwälzungen von 1917 mitten im Aufbruch befand. Material, Gestalt und Dimension der Entwürfe manifestierten dabei die radikale Abkehr der Ingenieure von allem Bisherigen. Insbesondere die Funktionen ihrer Gebäude sind völlig neu. Nun wurden Arbeiterklubs, kollektive Wohnanlagen, Partei – und Verwaltungsbauten und Industrieanlagen benötigt, um das rückständige Zarenreich in ein modernes Land sozialistischer Prägung zu transformieren.
Die Ausstellung im Gropius-Bau ist dieser kurzen wie aufregenden Epoche in der russischen Architekturgeschichte gewidmet. Historischen Fotografien von herausragenden Bauwerken der sowjetischen Avantgarde aus den 1920er- und 1930er Jahren stehen Porträts derselben Gebäude gegenüber, die der britische Fotograf Richard Pare Ende der 1990er aufgenommen hat. Die Lichtbilder werden zusammen mit ausgewählten Werken jener Künstler gezeigt, die mit ihren konstruktivistischen Zeichnungen und Gemälden quasi die künstlerische Basis für die „Baumeister der Revolution“ schufen.
„Pikante“ Aktzente
Natürlich ragen einzelne Ausstellungsstücke ganz besonders hervor. Im wortwörtlichen Sinne trifft das gleich im ersten Ausstellungsraum ganz sicher auf Wladimir Tatlins skurrilen Turm zu. Über 400 Meter sollte das Bauwerk aus Eisen, Glas und Stahl in die Höhe ragen und so nicht nur dem III. Weltkongress der Kommunistischen Internationale ein Denkmal setzen, sondern gleichzeitig auch als eindrucksvolle Komm-Intern-Zentrale fungieren.
Tatlins Entwürfe sahen vor, die Konferenz- und Büroräume sowie einen Radiosender in drei gläsernen Gebäudekörpern unterzubringen, die allesamt in unterschiedlichen Geschwindigkeiten um einen schräg durch den Turm verlaufenden Mast rotierten. Die komplizierte Konstruktion wurde letztlich jedoch aus Kostengründen und wegen Materialmangels nie realisiert. Leider! Aber allein schon der Entwurf und das in der Ausstellung ebenfalls präsentierte Modell dieses Projektes sind meiner Meinung nach absolut sehenswert.
Das gilt mindestens genauso für das auffällige Gosplan-Parkhaus mit seinem riesigen Bullauge. Ein geiles Design – entworfen von Konstantin Melnikow. Dieser lange Zeit von Stalin besonders geschätzte Architekt setzte auch bei seinem Privathaus auf ausdrucksvolle geometrische Formen. In zwei nebeneinanderliegenden zylindrischen Gebäudeteilen mit sechseckigen Fenstern verwirklichte er seine private, unorthodoxe Interpretation von „Schöner Wohnen“. Die zeitgenössischen Bilder aus dem Archiv des Moskauer Architekturmuseums A. W. Schtschusew und die aktuellen Pare-Fotos von diesen beiden Bauten sind einfach faszinierend.
Fazit: Die Ausstellung „Baumeister der Revolution“ ist ein geniales konzipiertes Triptychon über ein einzigartiges und doch fast vergessenes Stück Architekturgeschichte – garniert mit einigen „pikanten“ Akzenten. Ein Muss für jeden Architektur- oder Kunstinteressierten. Zu sehen noch bis zum 9. Juli 2012 im Martin-Gropius-Bau, dienstags – sonntags jeweils vom 10:00 – 19:00 Uhr. Der Eintritt kostet 10,00 Euro bzw. 7,00 Euro ermäßigt.