Besuch aus Westdeutschland. Meine Schwester ist seit langer Zeit mal wieder in Berlin – und möchte mindestens eine außergewöhnliche Ausstellung besuchen. Bei ihrer letzten Visite waren wir bei der MOMA-Schau in der Neuen Nationalgalerie. Schwierig, jetzt etwas Gleichwertiges zu finden. Vielleicht die perfekte Gelegenheit, Martins Museums-Tipp auszutesten!
Mit der U-Bahn fahren wir zum Kottbusser Tor. Oben an der Treppe leuchtet uns das Tageslicht entgegen. Vom Himmel jedoch keine Spur: eine riesige satellitenschüsselbewehrte Trutzburg versperrt die Sicht. Meine Schwester schluckt. Na ja, das „Neue Kreuzberger Zentrum“ (NKZ) ist wirklich kein schöner Anblick. Direkt vor uns öffnet sich ein Loch in dieser Wand aus Beton und lässt die Adalbertstraße passieren. Da müssen wir durch. Der Weg dorthin ist ein kleines Martyrium: alle paar Meter treibt uns die Berliner Luft neue verführerische Aromen in die Nasen. Es riecht nach gegrilltem Fleisch, fernöstlichen Gewürzen, gebratenem Fisch und frittierten Calamares. Wir trotzen standhaft allen Versuchungen.
Ein paar Schritte noch dann sind wir an unserem Ziel. Linker Hand liegt in einem winzigen Park das Kreuzberg Museum. Im zweiten Stock wird die Ausstellung präsentiert, die wir uns ansehen möchten. Ihr Titel lautet: „Geschichte wird gemacht! Berlin am Kottbusser Tor. Protestbewegung und Stadtsanierung in Kreuzberg SO 36“. Dass das ehemalige Sanierungsgebiet zwischen Skalitzer Straße, Wassertorplatz, Oranienburger Platz und Bethaniendamm im Mittelpunkt der Ausstellung steht, merkt man gleich, wenn man eintritt: große Modelle der betroffenen Straßenzüge dominieren den Raum. Ein an den Wänden angebrachtes Band aus Erläuterungstafeln nimmt die Besucher „an die Hand“ und geleitet sie durch die Exposition.
Wir starten in den 1950-Jahren. Damals begann man sich in Berlin erstmals nach dem Krieg wieder mit stadtplanerischen Aufgaben auseinanderzusetzen. Und wie! Unsere Augen bleiben an einer schlichten Zeichnung haften. Dicke Linien durchfahren das Bild von links nach rechts und von oben nach unten. Autobahn-Mikado: ganze drei Jahrzehnte – bis in die 1980er – spielten es die Berliner Verkehrsplaner auf Kreuzbergs Kartenblättern, mit Vorliebe kreuzten sich ihre Süd- und Osttangenten direkt auf dem Oranienplatz. Absurde Vorstellungen einer vergangenen Zeit, die dem Himmel sei Dank im Rundordner der Geschichte verschwunden sind! Oder etwa nicht?
Weiter geht es, in die 1960er und 1970er. Auch da wird gezockt, diesmal offenbar Monopoly. Es geht nicht um Parkstraße und Schlossallee, sondern um die Reichenberger und Dresdner Straße. Die Senatsverwaltung und Vertreter bestimmter „Wirtschafts“-Interessen eint ein Ziel. Mit einem Streich wollen sie ganze Häuserblöcke ins Nirwana befördern. An ihrer Stelle sollen neue Straßen und Gebäude errichten werden, die – so wird verkündet – endlich Licht, Luft und Sonne in das Leben der Menschen bringen. Eigentlich keine schlechte Idee. In bestem Architektendeutsch werden die Projekte bejubelt als “aufgelockerte Wohnbebauung, die zu eine spürbaren Belebung des Straßenbildes beiträgt“. Als „Moderne“ feiern die Planer ihren Stil. Die ausgestellten Bilder sprechen eine andere Sprache; zu sehen sind uniforme Blöcke mit dem sterilen Ambiente einer Trabantenstadt.
Beim Monopoly geht es um Einfluss, Macht und Geld. Alle wollen davon möglichst viel für sich herauszuschlagen. Wie die beiden „Investoren“ zum Beispiel, die da auf einem Foto mit Werner Düttmann posieren. Düttmann war als Architekt und Senatsbaudirektor (1960-1966) zu Beginn des Kreuzberg-Monopolys eine der zentralen Spielfiguren. „Verliebt ins Bauen“ soll er laut seiner Biographin Haila Ochs gewesen sein. Auf uns wirkt er, als schätzte er vor allem seine eigenen kreativen Ergüsse. So wie das NKZ: stolz präsentiert Düttmann auf einem anderen Foto das monströse Klötzchen-Modell des schäbigen Baus. Vielleicht grinst er auch nur, weil er weiß, dass er dort nie einziehen muss.
Was die Menschen davon halten, die hier arbeiten und leben, wollte offenbar niemand von Senat, Planern, Baulobby oder Hausbesitzern hören. Anschaulich skizzieren die nächsten Tafeln die Winkelzüge, mit der sie ihre Interessen gegen Bevölkerung und Lokalpolitik verfolgen. Die Bewohner ganzer Häuserblöcke lässt man „umquartieren“. Die wirkungsvollste Waffe wird hinter Glas präsentiert: die Abrissbirne. Sie sieht aus wie eine Bombe – und schafft vollendete Tatsachen. Aber es formiert sich Widerstand bei diesem Monopoly-Spiel. Die Kreuzberger lehnen die von oben verordnete „Moderne“ ab, finden ein neues Wort für die Pläne: „Kahlschlagsanierung“. Die Ausstellung bereitet mit wenigen Exponaten sehr eindrucksvoll auf, wie sich Alteingesessene und Zugezogene, Geschäftsleute, Gewerbetreibende, Studenten, Rentner, Linke, Migranten und Bezirkspolitik zusammenfinden, sich formieren und den Widerstand organisieren gegen die ihnen übergestülpten Planungen. Sie setzen Kreativität, Spontanität und Mut gegen die übermächtigen Gegner.
Dann eskaliert der Kampf. Gewaltsame Hausbesetzungen. Gewaltsame Räumungen. Und immer wieder die Abrissbirne, die Schutt und Asche hinterlässt. Aufgezeichnete Interviews mit Menschen, die das damals miterlebten machen die ausgestellten Dokumente lebendig. Erst als wir auf unserem Rundgang in den 1980ern ankommen, beginnen die Fronten aufweichen. Behutsame Stadtsanierung heißt nun das neue Zauberwort. Kein radikaler Kahlschlag mehr, sondern möglichst die Modernisierung der alten Bausubstanz. Natürlich mit Beteiligung der Betroffenen. Die Wende zum Besseren? Die Meinungen darüber scheinen geteilt.
Die vielen Infos und die intensive Auseinandersetzung mit dem Geschehen erschlagen einen fast. Dankbar lassen wir uns auf dem Kunstleder-Sofa in einer kleinen Nische des Ausstellungsraums nieder. Ein wenig Wohnzimmer-Atmosphäre kommt hier auf. Unzählige Familienfotografien hängen an den Wänden. Auf den Bildern geben Bewohner des NKZ einen kleinen Einblick in ihre vier Wände und in ihr Leben. Viele von ihnen scheinen hier tatsächlich so etwas wie ihr kleines Glück gefunden zu haben. Der Fernseher läuft. Es werden Kurzdokumentationen zum Kiez gezeigt. Die Gegend rund um den Kotti gilt noch immer als ein „sozialer Brennpunkt“: Drogen- und Migrationsprobleme beschäftigen die Menschen, Hausbesetzungen spielen jetzt keine Rolle mehr.
Ein kleines Mädchen drückt sich die Nase an der Plexiglas-Scheibe platt, die die Wohnzimmernische vom Rest des Ausstellungsraumes abtrennt. Andere Besucher wollen auf unser Sofa. Wir räumen es – freiwillig und wirklich ohne jeglichen Polizeieinsatz.
Vor der Tür des Museums trägt uns die warme Sommerbrise den appetitlichen Duft gegrillten Fleisches entgegen. Diesmal können wir nicht widerstehen, lassen Düttmanns architektonische Schandtat rechts liegen und gönnen uns in der Adalbertstraße einen Spitzendöner mit allem Drum und Dran. Natürlich ist unser Gesprächsthema beim Essen das eben Gesehene. Diese Ausstellung hat uns beide bewegt. Sie ist nicht übermäßig groß, aber unheimlich beeindruckend und mit viel Lokalkolorit präsentiert. Für alle, die etwas über die jüngere Geschichte eines der buntesten Stadtteile Berlins für sich entdecken wollen ist ein Besuch dieser Exposition im Kreuzberg Museum unserer Meinung nach ein absolutes Muss.
Kurzinfos zur Ausstellung
Titel der Ausstellung: Geschichte wird gemacht! Berlin am Kottbusser Tor. Protestbewegung und Stadtsanierung in Kreuzberg SO 36.>
Ausstellungsort: Kreuzberg Museum für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte, Adalbertstraße 95A 10999 Berlin-Kreuzberg
Öffnungszeiten: Mittwoch – Sonntag, jeweils von 12:00 – 18:00 Uhr
Eintritt: Frei, wem es gut gefallen hat, kann am Ausgang etwas spenden.
Führungen: Nach telefonischer Vereinbarung über die Telefonnummer (030) 505 852 31
Sonstiges: Das Museum bietet viele weitere Dauer- und Sonderausstellungen über die Menschen und Geschichte dieses ungewöhnlichen Bezirk Berlins.