Der Herbst ist golden im Jahr 1906. Auch der dritte Dienstag im Oktober gibt sich freundlich, als am frühen Nachmittag elf Männer die Gaststätte im Bahnhof Köpenick verlassen. Zehn von ihnen sind ganz blau, einer grau gewandet. Die zusammengewürfelte Mannschaft hat sich erst ein paar Stunden zuvor auf den Straßen Berlins aufgestellt. Den Rumpf der Truppe bilden zwei Abteilungen professioneller Uniformierter. Führender Kopf ist ein älterer Herr in Hauptmannstracht. Der ist eigentlich gar kein Offizier, sondern ein arbeitsloser Schuhmacher und Ex-Knacki namens Wilhelm Friedrich Voigt. Jetzt ist er auf dem Weg zu seinem großen Coup. Dabei zählt Voigt voll auf den preußischen Kadavergehorsam. Seine Gefolgsleute enttäuschen ihn nicht und stiefeln den hohen Abzeichen auf seinen Schultern kopflos hinterher.
In geordneter Linie marschiert die Gruppe die Bahnhofstraße entlang durch die junge Dammvorstadt gen Süden. Dann geht es links ab in die Lindenstraße und an dem neobarocken Kaiserlichen Postamt (Baujahr 1893) vorbei zum Fluss. Vor ihnen nimmt eine Pferdebahn die Auffahrt zur Dammbrücke und rumpelt über das Trio gleichförmiger Bögen zur Köpenicker Altstadt. Die Soldatenschar folgt dem Gefährt nach drüben ans andere Ufer der Müggelspree.
Auf der Insel stellt sich gleich ein stattlicher Palazzo den Männern entgegen. Seine ausladenden Flügel reichen weit in die angrenzenden Straßen hinein. Die Fassade ist reich verziert mit Türmchen, Erkern, Balustraden und barockhaften Segmentbogengiebeln. Der viergeschossige Prachtbau ist der Stammsitz der Köpenicker Bank, soeben (1905) fertiggestellt nach Plänen des Baumeisterduos Eveking und Schewe. An dem auffälligen Gebäude gabelt sich die Straße in drei Richtungen. Welchen Weg wird Voigt einschlagen?
Privilegien und Ketten
Links winkt die Freiheit. Ende des 17. Jahrhunderts wurde an dieser Stelle das Ufer aufgeschüttet wurde, um Platz zu schaffen für anderswo verfolgte Hugenotten. Die freuten sich nicht nur über das ungehinderte Ausleben ihres Glaubens, sondern auch über ein weltliches Präsent: der Landesherr befreite sie von Abgabenlast und Steuerpflicht. „Kurfürstliche Freiheit“ nannten die Köpenicker die Siedlung der Neuankömmlinge mit einem Anflug von Neid. Die Privilegien verschwanden irgendwann, die „Freiheit“ als Name des Sträßchens blieb.
Schlichte zweigeschossige Traufhäuser entstanden dort zunächst für die immigrierten Franzosen, die ihren Lebensunterhalt hauptsächlich als Wollweber und Seidenspinner bestritten. Aus diesen bescheidenen Anfängen entwickelten sich im 19. Jahrhundert dann respektable Woll-und Seidenmanufakturen. Später kamen dampfbetriebene Wäschereien hinzu. Versteckt hinter den Wohn- und Geschäftshäusern arbeiten die meisten Betriebe in verschachtelten Schuppen und größeren Fabrikgebäuden im rückwärtigen Teil der langgestreckten Grundstücke. Nördlich der kopfsteingepflasterten Freiheit stoppt erst der Fluss die ausufernden Gewerbeflächen. Auf der Südseite ragen zwischen Siedlerhäusern und Lagerflächen ein paar drei- oder viergeschossige Gründerzeitbauten empor.
In der Freiheit liegt auch das Gefängnis. Der Kerker ist im Hof hinter dem Köpenicker Amtsgericht untergebracht. Von dem im repräsentativen Schinkelschen Rundbogenstil errichteten Gebäude trennen Voigt jetzt nur wenige Schritte. Er lässt die Freiheit links liegen.
Wettstreit der Epochen
Die Kirchstraße gerade voraus ist die mittlere Option. Sie führt zwischen der rundbögigen St. Laurentiuskirche (fertiggestellt 1841) und dem spitzpfeilerigen Pfarrhaus (erbaut 1901) hindurch hinein ins Gewirr der Altköpenicker Gassen. Doch die roten Backsteinfassaden der beiden Gotteshäuser leuchten wie Warnlampen. Voigt wendet sich ab und wählt den rechten Weg: er führt seine Mannen in die Schlossstraße.
Dort geraten sie gleich mitten hinein in einen schwelenden Konflikt. Spätbarocke Architektur ringt da mit klassizistischen Fronten und historistischen Fassaden der Neorenaissance um die Vorherrschaft im Straßenbild. Bescheidene Fachwerkbauten, kleinstädtische Bürgerpalais und moderne Stadthäuser konkurrieren um die besten Plätze an Köpenicks ältestem und bedeutendsten Straßenzug. Allerdings hat der architektonische Richtungskampf bereits viel von seiner ursprünglichen Intensität verloren. Anfangs hatte der von der Gründungseuphorie des deutschen Kaiserreichs und üppigen französischen Reparationszahlungen befeuerte Wirtschaftsboom noch reichlich Kapital ins Zentrum Köpenicks gespült. Manches betagte Haus in der Altstadt verschwand, an seiner Stelle stehen nun mehrgeschossige Wohn- und Geschäftshäuser mit ihren für die Gründerzeitepoche so typischen Schmuckfassaden.
Aber die beengten Verhältnisse auf der Insel bieten kaum Luft für raumgreifende Ideen und tausende Zuzügler. Zudem sitzt Anfang des 20. Jahrhunderts das Geld nicht mehr so locker. Bauunternehmer und Grundstücksentwickler konzentrieren da ihre Investitionen lieber auf die riesigen Freiflächen jenseits von Spree und Dahme. Die Voraussetzungen sind hier bestens, inklusive ausgezeichneter Anbindung an Schiene und Straße. Auf dem frisch parzellierten Grund entstehen Köpenicks neue Quartiere wie die Kietzer, Köllner und Damm-Vorstadt. Sie wachsen in atemberaubendem Tempo.
Der Umbau von Köpenicks Altstadt dagegen stockt. Es bleibt bei dem vielgestaltigen Nebeneinander, in dem sich ein Vierteljahrtausend Stadt- und Architekturgeschichte ballt. Daraus entspringt im Zusammenspiel mit der den Einheimischen eigenen märkischen Bodenständigkeit, ihrer kleinstädtischen Rührigkeit und einer Prise liberalerer Urbanität Altköpenicks apartes Kolorit.
Neogotik an Art Noveau
Voigt aber hat für derlei Atmosphärisches und Architektonisches jetzt überhaupt keine Antennen. Auch das triumphbogenartige Portal ganz am Ende der Schlossstraße nimmt er kaum wahr. Dabei hebt sich das aus hellem Sandstein gebaute Tor zum Schloss (17. Jahrhundert) deutlich von den herbstbunten Bäumen ab. Das barocke Adelshaus selbst thront direkt dahinter auf seinem eigenen Eiland.
Voigts ganze Aufmerksamkeit gilt einzig einem alles überragenden Turm. Im 45-Grad-Winkel diagonal zu den Straßenfronten gestellt, steht er an der Ecke Schloss- und Rosenstraße. Der über 50 Meter hohe Koloss ist innerhalb kürzester Zeit zum weithin sichtbaren Wahrzeichen der aufstrebenden Stadt geworden. Er markiert den Haupteingang zu Köpenicks gerade erst eingeweihtem Rathaus (Baujahr 1902 – 1905).
Der neue Gemeindesitz ist nicht nur eines der modernsten Verwaltungsgebäude der Region, sondern auch eines der schönsten. Den Baumeistern Hans Schütte, Hugo Kinzer und einer weiteren handvoll beteiligter Architekten ist es gelungen, hier Form und Funktion in ästhetischer Weise miteinander zu vereinen. So hebt die im Stile der Backsteingotik gestaltete Fassade Würde und Bedeutung des Gebäudes hervor. Dank der verwendeten bunten Rathenower Klinker wirkt das enorme Gebäude dennoch nicht erdrückend, sondern freundlich und einladend. Geschickt eingearbeitete Akzente wie farbige Glasursteine, filigrane Maßwerke oder kunstvolle Jugendstil-Verglasung zaubern zudem dezenten Schick und feinsinnige Lebendigkeit auf die Außenmauern. Besonders effektvoll wird das institutionelle Herz des Gemeindesitzes in Szene gesetzt: drei Stockwerke hoch über der Schlossstraße liegt unter einem herrlichen Pfeiler-Wimperg-Giebel wie auch hinter riesigen, mit lokalen Motiven versehenen Spitzbogenfenstern und einem vorgesetztem Erkerbalkon der große Ratssaal.
Facettenreiches Finale
Voigt marschiert mit seiner Truppe geradewegs zum Hauptpforte des Rathauses, deren Äußeres an ein mittelalterliches Domportal erinnert. Dort postiert er unter dem mit Spitzpfeilern bewehrten Vordach zwei Soldaten mit aufgepflanztem Seitengewehr. Auch vor den Nebeneingängen in der Rosenstraße und vor dem Ratskeller in der Schlossstraße lässt er je einen Mann mit blitzendem Bajonett patrouillieren. Für niemanden gibt es jetzt ein Hinein oder Hinaus.
Mit seiner verbleibenden Streitmacht entert Voigt das Rathaus. Über die drei ausladenden Arme der Treppe stürmen sie den Aufgang hinauf zu den Amtsstuben der Stadtoberen. Der mahnende Blick des ehernen Polizisten hinab von seiner Sandsteinsäule kann ihm dabei keinen Einhalt gebieten. Die Sitzungs- und Büroräume, die Voigt nun zu Gesicht bekommt, sind durch die Bank fortschrittlich und geschmackvoll ausgestattet. Überall sorgen Gasbeleuchtung, Zentralheizung und eine Ventilationsanlage für angenehme Arbeitsbedingungen. Bunte Klinker und Ornamente, kunstvolle Bleiglasfenster und aufwändige Holzarbeiten zieren die öffentlichen Bereiche wie Hallen, Treppenhäuser, Flure und Säle.
Voigt ist zu angespannt, um das alles im Detail zu registrieren. Als er später vor die Rathaustür tritt, atmet er erst einmal durch. Hinter ihm stehen umringt von seine Soldaten Köpenicks Bürgermeister und sein Kämmerer. Die beiden städtischen Funktionäre schickt Voigt mit der Kutsche nach Berlin zum peinlichen Rapport. Seinen untergebenen Blauröcken gibt er noch ein paar letzte Instruktionen. Dann macht der Hauptmann den Abgang. Er will jetzt nur noch schnell runter von dieser Insel. In seiner Tasche spürt er die klingende Beute seiner Köpenickiade. Es sind keine viertausend Mark statt der erhofften Millionen. Frust und Flucht lassen ihm wieder keine Muße für einen wertschätzenden Blick auf die bauliche Vielfalt und die architektonischen Kostbarkeiten links und rechts seines Weges zurück.
Interaktive Karte: Altstadt Köpenick um 1920 – Voigts Zug durch Kostbarkeiten aus 250 Jahren Bau- und Architekturgeschichte
Die Karte stellt Bausubstanz und Gebäudestruktur auf der Altstadtinsel im Jahr 1920 dar. Fährt man mit der Maus über die Grafik, werden von den rot markierten Standorten aufgenommene historische Fotografien exemplarisch ausgewählter Einzelhäuser und Gebäude-Ensembles sichtbar. Der Weg, den Wilhelm Voigt von der Dammbrücke im Norden bis zum Rathaus nahm, ist blau eingezeichnet.