„Patronentasche“ – schnell hatte der Volksmund für den schmächtigen Bau den passenden Spitznahmen gefunden. Denn das mehrstöckige Gebäude direkt auf der Südseite des Potsdamer Stattkanals hatte eine geringe Bautiefe und diente obendrein als Quartier für die langen Kerls. Erbaut wurde es 1722 durch den vermögenden preußischen Oberleutnant von Kleist auf dem hintersten Teil seines Grundstücks. 1728 verkaufte er das Haus an einen Tischlermeister. Der ließ das Gebäude durch einen neuen Fachwerkbau ersetzen, für den Pierre de Gayette, seines Zeichens Hofbaumeister unter Friedrich Wilhelm I., verantwortlich zeichnete. Auch dieses Gebäude war sehr schmal. Wie bei seinem Vorgänger reihte sich in seinem Innern Stube an Stube für preußische Soldaten. Klar, dass die Leute es weiter „Patronentasche“ nannten.
„Einige Jahrzehnte später hatte die „Patronentasche“ bereits mehrfach den Besitzer gewechselt. 1770 war das Haus am Kanal in einem ziemlich heruntergekommenen Zustand. Dennoch kaufte es der Glasschleifer Johann Christoph Brockes (1737-1804) für 1.800 Taler. Brockes war am Hofe Friedrich II. hoch angesehen, er hielt ein königliches Handelsprivileg für Glaserzeugnisse. Die Geschäfte liefen glänzend, das neu erworbene Grundstück wollte der clevere Geschäftsmann für eine Glasniederlage nutzen. Schon bald wollte der neue Eigentümer das schäbige baufällige Haus durch einen Neubau ersetzen. Als königlicher Lieferant am Hofe eng vernetzt, war Brockes mit den friderizianischen Stadtverschönerungsplänen bestens vertraut und spekulierte darauf, beim König Fördergelder für sein Bauvorhaben locker zu machen.
Friderizianisch-französicher Schein
Friedrich II. ließ auch gleich seinen ersten Baumeister Carl Phillip von Gontard (1731 -1791) einen Entwurf für das neue Gebäude anfertigen. Gontard ließ sich beim Design vom pompösen Äußeren französischer Châteaus inspirieren. Seine Pläne zeigten eine prächtige 19achsigen Fassade. Ein dominanter Mittelrisalit mit von einem Säulenquartett gestützten Giebeldreieck gab zusammen mit zwei Risaliten an den Gebäudeflanken dem dreigeschossigen Bau ein markantes Gesicht. Dem Obersten aller Preußen gefiel, was er auf den Zeichnungen sah. Allein fehlte ihm das Geld, um es sofort Realität werden zu lassen.
Auch in den Folgejahren gab das königliche Baubudget trotz Brockes´ wiederholtem Bitten und Betteln keinen Groschen her, um das neue Haus am Kanal zu sponsern. Erst 1776 standen dann ausreichend Mittel zur Verfügung. Die königlichen Zuwendungen beschränkten sich allerdings wie bei vergleichbaren Projekten in Potsdam im Wesentlichen auf die Finanzierung der aufwändigen Fassade. Alle weiteren Kosten hatte Brockes selbst zu tragen.
Üppiger Schmuck auf schmaler Brust
Sofort begann man mit dem Bau des Brockesschen Bürgerpalais (schlossartige Fassade, dahinter ein normales Bürgerhaus). Dabei hielt man sich eng an Gontards Entwurf, krönte jedoch das Giebeldreieck mit vier Putten, die auf das Handwerk Brockes, die Glasherstellung und -bearbeitung, hinwiesen. Eine der Putten soll sich zum Beispiel – so Saskia Hüneke, Kustodin bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten – über das von dem Potsdamer Alchemisten und Erfinder des Rubinglases Johann Kunckel herausgegebene Handbuch der Glasmacherkunst beugen. Die Putten und die Attikavasen wurden wie der gesamte bildhauerische Fassadenschmuck wohl von den Brüdern Johann Christoph und Michael Christoph Wohler (oder von ihrem Vater, Johann Christoph Wohler der Ältere) geschaffen, allesamt damals höchst renommierte Künstler.
Das neue Haus war im Vergleich zu seinen Vorgängern zwar merklich in die Höhe, nicht jedoch in die Tiefe gewachsen. Mit der kolossalen Fassade wirkte es sogar noch schmalbrüstiger. Kein Wunder also, dass das nagelneue Brockesschen Palais der Spitzname seiner Vorgänger anhaften blieb: „Patronentasche“.
Natürlich entsprach auch der Innenausbau nicht dem imposanten Äußeren, sondern war gemäß dem Stand und den Bedürfnissen seines bürgerlichen Eigentümers gestaltet. Neben seiner Wohnung brachte der Glasschleifer Brockes hier seine u.a. Geschäfts- und Werkstatträume sowie ein Wagenlager unter. Wie in Preußen üblich dürfte es in dem Haus außerdem einige der obligatorischen Einquartierungsstuben gegeben haben, in denen die Potsdamer Bürger Friedrichs Soldateska unterzubringen hatten.
Siechtum und Wiedergeburt
1817, gut ein Jahrzehnt, nach dem Tod des Glasschleifers Brockes verkauften seine Erben den Palais an den preußischen Staat. Der brachte hier seine Oberrechnungskammer unter. Später nutzte der Rechnungshof des Deutschen Reiches das Gebäude. Im Gegensatz zu den Nachbarhäusern überstand das Brockessche Palais die alliierten Bombenangriffe kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges mit schweren, aber reparablen Schäden. Nach Kriegsende zog hier das Fernmeldebauamt der Deutschen Post ein, mit der Wiedervereinigung fiel das Gebäude 1989 in die Obhut der Deutschen Telekom. Seit einiger Zeit steht das Gebäude leer.
Fotogalerie „Brockessches Palais in Potsdam ” – Alle Bilder © 2012 Sven Hoch. – Zum Start auf ein Bild klicken!
Im selbsternannten 1. Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden hatte man bekanntermaßen wenig übrig gehabt für die Pflege irgendwie feudal und/oder preußisch anmutender Bauwerke. Der lange Leerstand tat sein Übriges. So präsentiert sich das Brockessche Palais – obwohl unter Denkmalschutz stehend – heute in einem jämmerlichen Zustand. Von der einstigen Schönheit der Fassade lässt sich das Meiste nur noch erahnen. Der bröckelnde Putz gibt den Blick auf Einschusslöcher aus dem zweiten Weltkrieg. Viele Stuckelemente sind beschädigt. Die vier Putten, die auf die Profession des einstigen Besitzers hinwiesen, sind nicht mehr zu sehen. Immerhin sollen sie irgendwo eingelagert sein und auf ihre Restaurierung warten.
Hotel, Museum, Behörde: jahrelang wurde ergebnislos über die zukünftige Nutzung – und die Finanzierung der entsprechenden Baumaßnahmen – gestritten und diskutiert. Erst jüngst gibt es endlich konkrete Pläne für die Zukunft des Hauses Nr. 18 in der Potsdamer Yorkstraße. Das herrliche Bauwerk aus Friedrichs Zeiten soll wieder aufblühen als extravagantes Wohnhaus in Potsdams Stadtmitte. Rund 20 Eigentumswohnungen werden bis 2014 in dem markanten Haus am Stadtkanal entstehen. Das wäre ein würdiger Neubeginn für die „Patronentasche“. (Mehr zu diesem besonderen Projekt in meinem Post „Brockessches Palais: Domizil mit friderizianischem Flair“)
Quellen (u.a.):
Erhart Hohenstein: Eine Patronentasche als Wohnhaus. In: Potsdamer Neueste Nachrichten vom 11.01.2008.
Thomas Sander: Die Geschichte des Brockesschen Palais. Ohne Jahresangabe.
Projektunterlagen / Prospekte diverser Bauträger und Initiatoren
Wikipedia
Foto Preußischer Soldat: ohallmann, flickr.com. Veröffentlich gemäß Creative Commons Licence (CC BY 2.0) Bearbeitet durch Wohnmal.info.