Adiós! Ich bin noch einmal an den Schinkelplatz gekommen, um mich zu verabschieden. Um noch einmal einer der schönsten Perspektiven zu genießen, die Berlin in meinen Augen zu bieten hat. Um Lebewohl zu sagen zu einem der faszinierendsten und für mich auch stimmungsvollsten Bauwerke der Hauptstadt, bevor seine Silhouette weitgehend aus dem Stadtbild getilgt worden ist.
Die Friedrichswerdersche Kirche gehört zu meinen absoluten Lieblingsorten, seitdem ich sie das erste Mal gesehen und betreten habe. Wie viele wundervolle Augenblicke habe ich vor und in Karl Friedrich Schinkels grazilem Sakralbau erleben dürfen. Geliebt habe ich jene frühen Morgenstunden an klaren Frühlingstagen, wenn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne die elegante Backsteingestalt in warmen Rottönen leuchten lässt. Oder die späten Nachmittage oben auf der Empore, wenn Helios die vielfarbigen Bleiglasfenster glühen ließ und das Kirchenschiff in eine zauberhafte Atmosphäre tauchte. Wie oft schienen in dieser betörenden Stimmung dann die Fischerin, die blaublütigen Schwestern Luise und Friederieke und all die anderen in dem Gotteshaus ausgestellten steinernen Skulpturen zum Leben zu erwachen.
Ruin eines Kleinods
Heute erlebe ich die Friedrichswerder Kirche als invaliden Backsteinzombie, mit gebrochenem Rückgrat, ohne Seele. Vor dem Hauptportal stapeln sich Baucontainer, ein Gerüst hangelt sich empor. Die schweren Eingangstüren sind verrammelt. Auf der Westseite schieben sich siebenstöckige Rohbauskelette bis auf dreieinhalb (!) Meter an die geweihten Mauern heran. Die Neubauten gehören zum Projekt „Kronprinzengärten“ der Berliner Bauwert Investment Group. Das Bauvorhaben umfasst den ganzen Häuserblock zwischen Falkoniergasse, Oberwallstraße, Werdersche Rosenstraße und Werderschem Markt. Das Häuserensemble wird überwiegend luxuriöse Wohnungen, aber auch Büros beherbergen. Mit dessen Errichtung der „Kronprinzengärten“ beginnt die aktive Zerstörung der Friedrichswerderschen Kirche.
Als 2012 die zweigeschossige Tiefgarage des Komplexes ausgehoben wird, die Erde unter der Kirche ins Rutschen, das Fundament sackt ab, der Westteil des Kirchenschiffs neigt sich. Die kleine Kathedrale bricht in der Mitte entzwei. Quadratmeterweise fällt Putz herab, fingerdicke Risse durchziehen Fundament, Säulen, Wände und Gewölbe. Unmengen Beton werden in den Untergrund gepumpt, um die Kirche zu stabilisieren. Der Zutritt zur Kirche wird gesperrt. Akute Einsturzgefahr? Hat angeblich nie bestanden haben!
Im Innern wuchert ein Dickicht aus Stangen und Gerüsten. Der einzigartige Charakter des Kirchraums ist verloren. Denn das spektakuläre Zusammenspiel von Licht und Raum funktioniert hier nicht mehr. Die „Kronprinzengärten“ nehmen dem Gotteshaus die Sonne. Deren Strahlen erreichen nachmittags und am frühen Abend kaum noch die hohen Fensterbögen. Die Statuen aus der Sammlung der Neuen Nationalgalerie wollten sich mit so einem kläglichen Schattendasein nicht abfinden. Sie haben sich längst aus dem Staub gemacht und werden kaum noch einmal zurückkehren!
Schinkel ist an allem schuld!
Wie konnte es soweit kommen? Wer ist dafür verantwortlich? Da wird viel herumgedruckst. Mal ist von möglicherweise fehlerhaften Berechnungen bei der Lastenverteilung zu lesen. Mal werden alte Papiere angeführt, in denen die Ausmaße des Kirchenfundaments ungenau angegeben sein sollen. Und da ist dieser Statiker, der Schinkel höchstpersönlich für das Desaster verantwortlich machen will: der habe die Kirche „mit ihrer übertriebenen Geometrie zu steil gebaut. (…) Entweder hatte Schinkel keinen ordentlichen Statiker, oder er hat nicht auf ihn gehört.“ Nun ja, die Anlage einer Tiefgarage und der Einsatz von Rammen direkt nebenan hat der Schinkel wirklich nicht berücksichtigt.
Die Bauwert Investment Group erklärte sich überraschend schnell bereit, die ersten Notreparaturen zu übernehmen, allerdings in bemerkenswerter Verkennung des Verursacherprinzips natürlich nur „freiwillig“. Inzwischen gibt es einen Vertrag zwischen dem Bauträger und dem Eigentümer des Schinkelbaus, der Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Danach will der Bauträger für alle durch sein Bauvorhaben entstandenen Schäden an der Friedrichswerderschen Kirche finanziell aufzukommen. Wie man wohl die „irreversiblen“ Schäden an der Kirche bewertet?
Kühl kalkuliert
Sicher ist: Schinkels „neogotisches Schmerzenskind“ wird noch mehr leiden. Denn gerade hat ein anderer Investor sein Bauvorhaben auf der Ostseite des Gotteshauses gestartet. Die Frankonia Eurobau errichtet hier mehrere Wohn- und Geschäftshäuser. Gutachter gehen von weiteren massiven Beschädigungen der Kirche durch dieses Projekt aus.
Der Bauträger hat seine Matheaufgaben gelöst: für jeden Millimeter Riss ist offenbar eine bestimmte Strafzahlung an die EKBO vorgesehen. Die Quadratmeterpreise für die Apartments in den Frankonia-Häusern werden die höchsten der Stadt sein. Unter dem Strich rechnet es sich.
Keine Frage, die an den aktuellen Neubauprojekte am Friedrichswerder Beteiligten nehmen die nicht wieder gut zumachende Beschädigung des Schinkelschen Sakralbaus billigend in Kauf. Dennoch sind die Bauträger beileibe nicht die allein Verantwortlichen für diese desaströse Situation am Friedrichswerder.
Untergang durch kritische Rekonstruktion
Für mich liegt die Ursünde bereits in dem maßgeblich von Hans Stimmann in den 1990er Jahren konzipierten Planwerk Innenstadt. Warum? Werfen wir ein Blick zurück.
Die Friedrichswerdersche Kirche war nie ein Solitär. Schon Schinkel hatte die Kirche einst in einem eng bebauten Umfeld errichtet. Allerdings waren die Häuser damals allenfalls drei Stockwerke hoch, das Gotteshaus überragte sie deutlich. Sonnenlicht fiel von allen Seiten auf die fein gegliederten Fassaden, Türme und Fialen zeichneten sich markant gegen den Himmel ab. Die Friedrichswerde Kirche konnte und sollte gesehen werden, innen wie außen.
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts flankierten zwar etwas höhere Bauten die Kirche. Doch keines dieser Häuser überlebte den II. Weltkrieg und den Sozialismus auf deutschem Boden. Die Stadtplaner der Nachwendejahre hatten alle Möglichkeiten, die außergewöhnliche Schönheit und architektonische Bedeutung der Friedrichswerderschen Kirche in einem behutsam entwickelten urbanen Rahmen einzufassen. Die Kirche wieder durch eine Bebauung der Umgebung aus der städtebaulichen Isolation zu holen, ist natürlich grundsätzlich richtig.
Doch bei der Planung der neuen Mitte ordnete man sich offenbar stur der Stimmannschen Parole von der „Kritischen Rekonstruktion“ unter. Man kramte die historischen Stadtpläne hervor und reihte tatsächlich sechsstöckige Häuser entlang der alten Verläufe enger Gassen. Alles wurde dann schön festgesetzt im entsprechenden Bebauungsplan. Das traurige Ergebnis: Schinkels herrliches Kathedrälchen versinkt nach und nach in einem immer trostloseren Meer moderner Investorenklötze. Sind die Frankonia-Bauten erst einmal hochgezogen, ist die Friedrichswerdersche Kirche de facto aus dem Stadtbild verschwunden. Warum hat man nicht ein bisschen mehr Platz gelassen, das eine oder andere Gebäude in direkter Nachbarschaft etwas versetzt errichtet und etwas niedriger gebaut? Das Ergebnis wäre für mich persönlich wohl ansehnlicher und akzeptabler geworden.
Warten auf Godot! Oder was macht der Denkmalschutz?
Und dann ist da noch die merkwürdig „Nicht-Rolle“, die der Berliner Denkmalschutz spielt. Zur Erinnerung: die Friedrichswerdersche Kirche ist als Baudenkmal in die Landesdenkmalliste eingetragen. Damit steht sie unter weitreichendem Schutz stehen, der von den zuständigen Behörden von der Bezirksebene bis zum Senat sichergestellt werden sollte.
Jeder, der an einem Berliner Baudenkmal schon einmal erlaubnispflichtige Veränderungen durchführen wollte oder durch, weiß wie kleinlich die Damen und Herren vom Denkmalschutz im Rahmen der Erteilung einer denkmalschutzrechtlichen Genehmigung die geplanten Maßnahmen prüfen. (Und das ist gut so!).
Dann wird direkt an den Außenmauern eines jahrhundertalten Baudenkmals, dem einzigen Gebäude eines der herausragenden Baumeister Berlins zudem, das weitgehend originalgetreu erhalten ist, mit umfassenden und technisch anspruchsvollen Bauvorhaben begonnen. Quasi mit Ansage (Einsatz von Rammen!) kommt es zum Desaster – und vom Denkmalschutz hört und sieht man – zumindest öffentlich – nichts! Warum haben unsere Denkmalschützer in einem solch herausragenden Fall wie diesem nicht genau hingeschaut? Warum wurden hier den Bauträgern nicht von vornherein mehr Auflagen gemacht? Unfassbar!
Lebwohl
Ich schaue vom Schinkelplatz hinüber zu der schlanken Backsteinkirche. Auf der sandigen Fläche davor sind ein paar Container und ein Stapel Stahlträger abgestellt. Davor wuselt ein Radlader hin und her. Auch ein Großbohrer wartet auf seinen Einsatz. Eine Gruppe Arbeiter kommt auf die Baustelle. Es ist Zeit, sich zu verabschieden. Jenseits des Brunnens drehe ich mich noch einmal um. Mach ess gut, kleine Kathedrale! Halt die Fialen steif! Adiós!
Quellen (u.a.):
- Diverse Pressemitteilungen der Evangelischen Landeskirche (EKBO) zu den Bauvorhaben um und den dabei entstandenen bzw. befürchteten Schäden an der Friedrichswerderschen Kirche aus den Jahren 2012 – 2015
- Manfred Aulich: Streit um Schinkels Bauweise. Erschienen in der Berliner Zeitung vom 18.11.2012.
- Claudie Keller: Neue Schäden an Kirche in Mitte befürchtet. Erschienen im Tagesspiegel vom 23.10.2015
- Sabine Flatau: Friedrichswerdersche Kirche in Schieflage. Erscheinen in der Berliner Morgenpost vom 23.10.2015
- Schadenbegrenzung an der Schinkel-Kirche. RBB-Abendschau vom 23.10.2015
Lesetipp:
Schinkels schönes Schmerzenskind – Von der Geschichte und Schönheit der Friedrichswerderschen Kirche