Berlin-Altglienicke, August 2010. Wie ein einsames Seezeichen weist mir ein karges, schmales Holztürmchen an der Germanenstraße die Richtung. Zu seinen Füßen beginnt ein Weg, dessen Mitte mit roten und grauen Backsteinen gepflastert ist. Rechts und links wird dieser Backsteinstreifen von zwei mit feinem Split bedeckten und von schmalen Reihen stoppeliger Grasbüschel umrahmten Fahrspuren begleitet. Ich nehme diesen Weg. Schon nach wenigen Metern fühle ich mich auf wundersame Weise mitten ins alte viktorianische England versetzt. Aus dem Grün der Gärten erheben sich rechts und links des Weges und halb verdeckt von alten Obstbäumen pittoreske Häuschen, die wie Miniaturausgaben großer angelsächsischer Landsitze aus dieser glanzvollen Zeit aussehen. Schmetterlinge fliegen überall, eine Katze huscht vorbei. Eine ländliche Idylle. Aber – irgendetwas stört dieses schöne Bild. Die Gärten wirken verwildert, mannshohe Spontanvegetation macht sich überall breit und überwuchert die Pfade zu den Hauseingängen. An mancher Fassade bröckelt der Putz, gibt den Blick frei auf die gemauerten Ziegelwände. Die braunrote Farbe schält sich von den hölzernen Balkonen, Vordächern und Fensterläden. Über allem schwebt ein Gewirr aus Kabeln und Leitungen. Kein Zweifel: hier wohnt niemand mehr, die romantischen Häuschen sind leer und verlassen.
Fotogalerie „Altglienickes Aschenputtel: Die Preussensiedlung“ – Alle Fotos © 2010 Sven Hoch
Ich gehe weiter, ein grauer Gebäuderiegel mit steilen, roten Dächern versperrt die Sicht. In dieser Häuserwand öffnet sich ein Torbogen, lässt den Weg und mich passieren. Plötzlich stehe ich mitten auf einem Platz. Umrahmt von diesen graugelben Bauten mit den hoch aufragenden Dächern erinnert er mich sofort an den Marktplatz jenes mittelalterlichen Dorfes, das in dem Märchenbuch abgebildet war, aus dem wir als Kinder immer vor dem Einschlafen vorgelesen bekamen. Klar, die Fassaden wirken moderner, kein Fachwerk zu sehen – aber die Atmosphäre ist die gleiche: ausdrucksvoll und heimelig zugleich. Zumindest im ersten Augenblick: denn auch hier fehlt das Leben, das bunte Treiben, die Menschen. Eingeworfene Scheiben, Fensterläden, die schief in den Angeln hängen, jemand hat mit auslandender Schrift riesige Zahlen auf die Türen gekleistert. Alles wirkt öde und verwahrlost. Nur ein Vorgarten sticht mir ins Auge, sorgsam gepflegt der Rasen, die Blumen und Beete. Dahinter aber steht wieder ein nur baufälliges Haus.
Am anderen Ende des Platzes habe ich die Wahl: linker Hand führt ein Weg zurück zur Germanenstraße, rechts geht es zur Preußenstraße. Auch wenn die Preußen dieser Siedlung ihren Namen gegeben haben, entscheide ich mich für den Weg zurück zur Germanenstraße. Wieder geht es durch einen Torbogen. Ein Grafitti schreit: „Wir kapitulieren nie!“ – ich habe einen anderen Eindruck. Dahinter wuchert das Grün.
Wieder muss ich an Märchen denken. An Aschenputtel. Schlecht behandelt, in schäbige Kleider gesteckt fristet sie ihr Dasein zwischen Schutt und Asche. Keiner sieht ihre Anmut und Schönheit. Erst durch ein Wunder aus ihrem Gefängnis erlöst, kann sie sich entfalten und das Herz des Königssohns für sich gewinnen. Die Preussensiedlung scheint Altglienickes Aschenputtel zu sein: wer kennt schon den architektonischen Reiz, die ausgewogene und ruhige Ästhetik dieses Kleinods Berliner Baugeschichte, verdeckt von zwei Jahrzehnten des Vergessens und des Verfalls. Es braucht schon ein Wunder, um es wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Oder einen Prinzen, der dieses Aschenputtel aus seinem Dornröschenschlaf küsst. Oder am besten beides.
Wieder am Germanenweg angekommen, sehe ich ein Bauschild. Darauf steht: „Preussensiedlung – Denkmalgeschützte Reihen- und Doppelhäuser. Qualitätssanierung. 38 Häuser von 50 – 120 Quadratmeter Wohnfläche. Eigener Obstbaum mit Garten. Moderne Bäder und Haustechnik. Denkmalabschreibung auf die Sanierungskosten.“
Lesetipps und weitere Posts/Beiträge zur Preussensiedlung:
Die Gartenstadtidee und die Preussensiedlung – Infos zur Geschichte und dem architektonischen Ursprung der Preussensiedlung in Berlin-Altglienicke
Renaissance einer Rose – Infos zur Sanierung der Preussensiedlung in Berlin-Altglienicke / Infos für Kaufinteressierte